Herr Kullak-Ublick, was sind denn – ganz kurz erklärt – die Hauptunterschiede zwischen einer Waldorfschule und einer Regelschule?
Die Waldorfschule hat einen ganz anderen Ausgangspunkt. Es geht bei der Waldorfschule nicht primär darum, dass man einen standardisierten Wissenskanon in einem bestimmten Zeitraum so an die Kinder heranbringt, dass er unverändert abrufbar ist. In der Waldorfschule wird auf den Entwicklungsstand des einzelnen Kindes und die alterstypischen Entwicklungsbedingungen geschaut und der Lehrplan entsprechend laufend fortentwickelt und individualisiert. In den ersten sechs bis acht Schuljahren haben die Kinder eine feste Bezugsperson, den Klassenlehrer, der alle klassischen Hauptfächer, von Mathematik über Deutsch und Geschichte bis zur Chemie in Epochen unterrichtet.
Was heißt das?
Das heißt, die Kinder setzen sich immer drei oder vier Wochen lang intensiv mit einem Thema auseinander. Der Unterrichtsstoff wird in drei Schritten an die Kinder herangebracht: vom eigenen Tun über das kreative Verarbeiten – beispielsweise in selbstgeschriebenen Schulbüchern – zur individuellen Begriffsbildung. Dadurch bekommen die Kinder Vertrauen in ihre eigene Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit. In der Oberstufe, die in der Regel ab der neunten Klasse beginnt, unterrichten Fachspezialisten das jeweilige Fach, ebenfalls in Epochen. Der Stoff, den man vorher in eher bildhaft-fantasievoller Form erarbeitet hat, wird jetzt in ein bewusstes Verhältnis zur wissenschaftlichen Forschung gesetzt und reflektiert.
Die Waldorfschule beruft sich auf eine Pädagogik, die vor 100 Jahren begründet wurde. Ist das noch zeitgemäß?
Dafür muss man wissen, dass die Waldorfpädagogik kein Programm ist. Es ging Rudolf Steiner nicht darum, den Lehrern einen in Beton gegossenen Lehrplan zu geben. Die Idee der Waldorfpädagogik ist, dass der Lehrplan und die Methoden sich an der Wahrnehmung der Kinder ständig weiterentwickeln. Insofern ist das kein dogmatisches System von vor hundert Jahren, sondern in fortlaufender Entwicklung begriffen. Das ist der modernste Ansatz, den ich kenne.
Aber wofür braucht man heute noch Ackerbauunterricht?
In der Waldorfschule geht es darum, dass die Kinder vielfältige Beziehungen zur Welt aufbauen. Das funktioniert nicht nur über den Kopf. Man verbindet sich mit der Welt, indem man alle seine Sinne benutzt und sie sozusagen im Handeln lieben lernt. Die Ackerbauepoche in der dritten Klasse ist ein wunderbares Beispiel dafür. Die Kinder gehen tatsächlich auf den Acker und pflügen den Boden, indem sie einen Einschar-Pflug ziehen. Das ist eine verdammt harte Arbeit. Dann eggen und sähen sie das Land. Wenn sie später das Korn ernten, dreschen, malen und backen und den ganzen Prozess vom Pflügen bis zum fertiggebackenen Brötchen erleben, ist das eine unglaublich starke Erfahrung. Man kann sich das Wissen über solche Dinge in Sekundenschnelle über sein Smartphone holen. Aber die haptische Erfahrung, die Geduld, über längere Zeit zu beobachten, wie sich etwas entwickelt, das ist etwas, worüber die Kinder eine reale Beziehung zur Welt herstellen. Das wiederum bildet Grundfähigkeiten, die sie später auch in der digitalen Welt anwenden können.
An Waldorfschulen gibt es schriftliche Beurteilungen anstelle von Noten und Schüler können nicht sitzenbleiben. Lernen sie dann überhaupt etwas?
Die Frage würde ich gerne zurückgeben: Was ist das denn für ein Lernen, das man nur für Noten macht? Wir befinden uns mit diesem Prinzip im Einklang mit der modernen Hirn- und Erziehungsforschung. Noten sind pädagogisch gesehen ein vollkommener Schwachsinn – zumindest bis zum 14. Lebensjahr. Noten messen einen vorgegebenen Wissenskanon und den Abstand, den der einzelne dazu hat. Das hat mit dem eigentlichen Lernen nichts zu tun. Wenn man sich die Abschlüsse anschaut, machen weit überdurchschnittlich viele Waldorfschüler Abitur, bezogen auf den Einschulungsjahrgang. Als Waldorflehrer muss man sich verdammt anstrengen, dass man einen interessanten Unterricht macht, denn man kann die Kinder nicht über die Noten zwingen, aufzupassen.
Aber der Umgang mit Druck will doch gelernt sein.
Ich habe nichts dagegen, dass man sich anstrengt und auch mal Druck hat. Wenn man ein Theaterstück einstudiert oder ein Orchesterwerk, oder wenn man sich in der achten oder zwölften Klasse auf die Jahresarbeiten vorbereitet, bei denen jeder Schüler eine Art Gesellenstück aus eigener Arbeit abliefern muss, dann entsteht schon Druck. Es gibt einen bestimmten Termin, an dem muss das Ding sitzen, da müssen die Schüler das vor einem großen Publikum vorstellen. Aber das sind Prüfungen, bei denen der einzelne zeigen kann, was er kann. Dabei bekommt er sofort eine Rückmeldung, wie es gelaufen ist. Dass zum Leben dazugehört, auch Dinge zu tun, die keinen Spaß machen, das weiß auch jeder Waldorfschüler.
Die Waldorfschule hat den Ruf, sie und Naturwissenschaften würden nicht so recht zusammenpassen.
Das ist eines der widerlegten Vorurteile. In Österreich gab es einmal eine Pisa-Studie speziell zu den naturwissenschaftlichen Kompetenzen, bei der die Waldorfschulen separat ausgewertet wurden. Und siehe da: Sie lagen weit über dem OECD- und dem österreichischen Durchschnitt. Die Forscher führten das dezidiert auf das an der Waldorfschule praktizierte phänomenologische Vorgehen in den Naturwissenschaften zurück, bei dem man sich zuerst die Phänomene anschaut, dann reflektiert, was man sieht, und daraus zu seinen Erkenntnissen kommt. Der Medizinnobelpreisträger von 2013 Thomas Südhof beispielsweise hat ausdrücklich betont, dass er in der Waldorfschule gelernt habe, wirklich aus Interesse zu forschen. Er hatte ursprünglich gar nicht vor, Mediziner zu werden, aber die Waldorfschule habe ihn gelehrt, wie man neugierig Phänomene anschaut und dann weiterforscht.
Lernt man in Eurythmie tatsächlich seinen Namen zu tanzen?
Inzwischen macht man das manchmal zum Spaß, einfach weil es so ein herrlich albernes Klischee ist. Aber darum geht es nicht. Bei Eurythmie geht es darum, dass man seinen eigenen Körper wie ein Instrument benutzt, um damit Gedichte oder Musik in einen Bewegungsablauf zu bringen, der den Raum gestaltet. Die Schüler entwickeln dadurch eine Wahrnehmungsfähigkeit für den Raum und ihre Umgebung.
Der Begründer der Waldorfpädagogik Rudolf Steiner ist nicht unumstritten. Wie gehen die Waldorfschulen mit rassistischen Äußerungen in seinem Werk um?
Steiner hat sich, wenn man sein Lebenswerk anschaut, dezidiert gegen jede Form von Rassismus eingesetzt, immer wieder. Er hat zum Beispiel gesagt: „Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit“. Trotzdem hat er auch Dinge geäußert, die aus heutiger Sicht diskriminierend wirken und die man so nicht stehen lassen kann. Die Waldorfschulen haben auch deshalb 2007 die sogenannte „Stuttgarter Erklärung“ verfasst, in der sie sich glasklar gegen jede Form der Diskriminierung positionieren.
Die Waldorfschule will einerseits eine Schule für alle sein. Gleichzeitig fühlen sich aufgrund des Schulgeldes und der bestimmten Pädagogik natürlich nur bestimmte Elternhäuser angesprochen. Gibt es also doch eine Art Selektion?
Aus Studien für Deutschland geht hervor, dass die Elternschaft einer Waldorfschule immer ziemlich genau das Einkommensniveau wiederspiegelt, das an dem jeweiligen Standort herrscht. Richtig ist aber, dass Eltern, die ihre Kinder an eine Waldorfschule schicken, in der Regel schon einmal angefangen haben, über Erziehung nachzudenken. Das heißt, dass man im Durchschnitt eine bildungsnähere Elternschaft hat als vielleicht an anderen Schulen. Das kann man allerdings den Waldorfschulen nicht vorwerfen. Würde man freie Schulen finanziell nicht schlechter stellen als staatliche Schulen, gäbe es die Schwelle mit dem Schulgeld nicht und Eltern wüssten, dass sie sich frei zwischen verschiedenen Schulen entscheiden können. Das kann man beispielsweise in Skandinavien oder in den Niederlanden sehen. Hier finden Eltern es ganz normal, zwischen unterschiedlichen Schulen auszuwählen und zu gucken, welche am besten zu ihnen und ihren Kindern passt.