Erschienen in der Schwäbischen Zeitung, 6.9.2018, Seite 3

Der Traum von einer besseren Welt im Kleinen

Markus Hener und Odette Lassonczyk wollen am Bodensee ein Ökodorf bauen

Von Sarah Schababerle
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Friedrichshafen (sle) – Markus Hener und seine Frau Odette Lassonczyk könnten sich eigentlich entspannt zurücklehnen und ihr Leben genießen. Ihre fünf Patchwork-Kinder sind aus dem Haus, die gemeinsame Praxis für Psychotherapie läuft gut, die Hypothek auf die Doppelhaushälfte in Efrizweiler bei Friedrichshafen ist überschaubar. Zeit, zu reisen, die Zweisamkeit zu genießen, so wie es viele andere machen. Doch Hener und Lassonczyk wollen die Welt retten. Und ein kleines Dorf am Bodensee bauen.


In einer kleinen Skizze – mit wenigen Filzstiftstrichen scheinbar nebenbei auf ein Papier gekritzelt – stecken symbolisch alle ihre Träume und Ideen. Hener schiebt die Zeichnung zögernd über den Tisch im großen Therapieraum der psychotherapeutischen Gemeinschaftspraxis, bevor er sich wieder in seinen Stuhl zurücksinken lässt. Es wirkt fast so, als hätte er Angst, alles könnte wie eine Seifenblase zerplatzen. Dabei ist das Projekt längst mehr als ein Luftschloss.

Sportlich-leger kommt der 60 Jahre alte Diplompsychologe daher, in seinem hellblauen Kurzarmhemd und der grauen Jeans, die sich bei schwülen 30 Grad Außentemperatur nur mit Klimaanlage aushalten lässt. Die dunkelgrauen Haare – nicht ganz kurz – kommen in einer leichten Strubbelfrisur daher und lassen ihn deutlich jünger wirken. Die Uhr mit dem Metallarmband baumelt einen Tick zu locker ums Handgelenk, so dass er sie mit der anderen Hand immer wieder nach vorne schieben muss. Einzig die vorn geschlossenen Ledersandalen verraten, dass für Hener Gesundheit und Wohlbefinden vor modischen Befindlichkeiten liegen.


Ökologie und der soziale Gedanke ist dem Paar wichtig. Ihre Klamotten sind, wie sie sagen, fair gehandelt, die Familie ernährt sich ausschließlich bio, Einfamilienhaus und Praxis werden mit Erdwärme geheizt und das Elektroauto fährt mit Strom aus der hauseigenen Photovoltaikanlage. Gut fürs Gewissen und soweit noch nicht allzu außergewöhnlich. Doch das reicht den beiden nicht.


Nicht das erste Projekt der Heners

„Wir haben an unsere Kinder und künftigen Enkel gedacht und uns gefragt, was können wir als ganz normale Bürger ändern? Was können wir tun, dass diese Erde erhalten bleibt?“, sagt Lassonczyk. Die 55-Jährige, die ebenfalls Psychologin ist, könnte in ihrem schlichten, grauen Etuikleid auch zu einem Ärztekongress gehen. In ihrem gepflegten, kinnlangen Bob vereint sich ein sonniges Blond mit einigen grauen Strähnen. Ihre aufrechte Haltung und der kritische Blick, mit dem sie ihr Gegenüber jederzeit zu analysieren scheint, vermittelt anfangs den Eindruck von Arroganz, der jedoch nur so lange anhält, bis sie zum ersten Mal lacht.


Die Begeisterung, wenn Lassonczyk von ihren Projekten erzählt, ist ansteckend. Das Dorf ist nicht ihre erste Idee. Vor rund vier Jahren gründete das Paar – inspiriert vom Film „Die Strategie der krummen Gurke“ über ein Freiburger Projekt – einen Verein für solidarische Landwirtschaft, kurz Solawi. Die inzwischen 90 Mitglieder bauen auf einer etwa einen Hektar großen Ackerfläche bei Raderach im Bodenseekreis Gemüse an und teilen Kosten, Arbeit und Ernte untereinander auf. Für Lassonczyk der Auslöser, sich in Soziokratie, einer Form der Selbstorganisation, fortzubilden. „Wir sehen uns ein bisschen wie Pioniere“, sagt die Psychologin, während ihre Hände, die bisher auf ihren übereinander geschlagenen Beinen ruhten, große Gebilde in die Luft malen. „Irgendjemand muss ja voran gehen und etwas ausprobieren.“

Es war ein Buch, das den beiden vor wenigen Jahren in die Hände fiel und etwas in ihnen in Gang setzte, wie ein Funke im trockenen Gras. „Einfach. Jetzt. Machen“ heißt das Werk von Rob Hopkins, einem britischen Umweltaktivisten, der darin über Städte im Übergang schreibt. So einfach der Titel, so klar die Botschaft, die bei Hener und Lassonczyk ankam. Schon länger war die Erkenntnis gereift, dass ihr Haus, das sie einst mit vier ihrer Kinder bezogen, für sie als Paar viel zu groß war. „Wenn ich durchs Haus gehe und die leeren Kinderzimmer sehe, denke ich, da gehört eine Familie rein“, sagt Lassonczyk. Auch für ihren Mann sind ein eigener Fitnessraum oder ein Bügelzimmer keine Option. Warum also nicht einfach mal ein paar andere Ideen zulassen? Eine genossenschaftliche Wohnanlage beispielsweise.


Solidarische Gemeinschaften sind keine Erfindung der Friedrichshafener. Bereits in den 1970er und 80er Jahren schlossen sich Menschen zusammen, um nach gemeinsamen Prinzipien, seien sie spirituell, ökologisch oder sozial, zu leben – über den rein wirtschaftlichen Zweck hinaus. Findhorn in Schottland gilt als die „Urmutter“, weitere Projekte gibt es heute in Portugal, Österreich, der Schweiz, ganz Europa. Vorteil für das Paar vom Bodensee: Sie können von ihnen lernen. Von Kommunen bis zu genossenschaftlichen Bauprojekten – viele Gemeinschaften haben sich Hener und Lassonczyk inzwischen auf ihren Reisen über den Kontinent angeschaut, Gesinnungsgenossen bei einem europäischen Ökodorftreffen in Estland kennengelernt und sich inspirieren lassen.


Dorfplatz mit Biokantine und Carsharing

Während Hener von seiner Vision eines Ökoseedorfs erzählt, schweift sein Blick immer wieder durch das deckenhohe Fenster in den kleinen Garten – eine Oase. In einem Teich tummeln sich eine Handvoll kleiner Goldfische und Wasserläufer flitzen im Zickzack auf der Oberfläche herum. Regen und Sonne haben dem Holzsteg eine graue Patina verpasst.


Eine Wohngemeinschaft in „Stammesgröße“, also für 90 bis 150 Menschen, davon träumen Hener und Lassonczyk und mit ihnen inzwischen zehn weitere Menschen, die sich dem Projekt schon angeschlossen haben – ein kleines Dorf. Aber keine Hippiekommune mit Dogma und Anführer, das steht für die Gruppe fest. Jeder soll weiterhin seinen eigenen Haushalt führen. Hener zeigt auf die Skizze. Mehrere Wohnhäuser stehen wie Sonnenstrahlen im Halbkreis um einen Dorfplatz mit Gemeinschaftshaus. Dahinter beherbergt ein größeres Gebäude eine Bio-Kantine, ein Nachbarschaftscafé, einen Fahrradshop und Car-Sharing, Praxen und ein Seminarzentrum. Rundherum gibt es viel Grün.


Ob das Dorf einmal genau so aussehen kann, hängt vom Grundstück ab, das die Gruppe kaufen will. Mit der Stadt Friedrichshafen ist sie bereits im Gespräch, schließlich soll die Siedlung zentrumsnah zu einer Stadt oder einem bestehenden Dorf entstehen. Der Oberbürgermeister von Friedrichshafen, Andreas Brand, sei von ihrer Idee bereits begeistert, sagt Hener. „Aus Sicht der Verwaltung bietet das Projekt einen interessanten und innovativen Ansatz“, sagt Stadtsprecherin Andrea Kreuzer. „Wir haben jedoch derzeit keine frei verfügbaren Bauplätze.“ Bei künftigen größeren Flächen könnte die Bewerbung des Ökoseedorfs aber berücksichtigt werden.


Derweil machen die Planer weiter. Zusammen mit Architekten wurde bereits ein Businessplan erarbeitet. Es sollen Wohnungen unterschiedlicher Größe für Alleinstehende, Paare, kleine und große Familien entstehen. Und es wird an der Satzung gefeilt. Im Oktober wollen Hener und Lassonczyk die Genossenschaft gründen. „Eine neue Kultur des gemeinschaftlichen Lebens und der Selbstbestimmung“ soll sich darin entfalten, haben die Mitglieder in ihrem ersten 10-Punkte-Plan festgehalten. Die Menschen wollen in ihrem neuen Dorf „ökologisch und regenerativ, soziokratisch und gewaltfrei sowie angemessen und fair“ zusammen leben und „mit Rücksicht auf die Erde und nächsten Generationen von Menschen agieren.“


Kein billiger Wohnraum

Also nichts für Menschen, die einfach nur billig wohnen wollen, erklärt Lassonczyk und fächert einen Stapel Pappkarten, die etwa doppelt so groß wie Postkarten sind, mit beiden Händen auf. Draußen ziehen Wolken auf, der Wind, der durch die geöffnete Terrassentür hereinweht, riecht nach Regen. Die künftigen Bewohner müssten einen hohen persönlichen Einsatz, eine starke Verbindlichkeit und finanzielle Mittel mitbringen, sagt sie. Auf den Karten stehen Aussagen, mit denen sich die Gründer identifizieren. „Sich aktiv für den Schutz von Gemeinschaft und Natur einsetzen“, liest Lassonczyk vor. Und „Abfall als wertvolle Ressource erkennen und nutzen“. Die Karten will die Psychologin im Bewerbungsverfahren einsetzen, um für das Dorf die richtigen Mitstreiter zu finden. Die Basis steht, in der konkreten Ausgestaltung dürfen die künftigen Bewohner soziokratisch und auf Grundlage gewaltfreier Kommunikation mitgestalten. Wer einziehen will, muss sich Grundlagenwissen darüber aneignen. Und bereit sein, auf ein eigenes Auto zu verzichten.


Hohe Anforderungen, doch Hener und Lassonczyk sind optimistisch. „Wenn man keine Fantasie hat, nichts Neues wagt, dann kommen wir nicht voran“, sagt Hener und seine Frau fügt hinzu: „Dann würden wir noch in Höhlen sitzen.“ Um ihre „Graswurzelbewegung“ einerseits gut zu verwurzeln und andererseits für nachfolgende Generationen fruchtbar zu machen, arbeiten sie mit Universitäten und Fachhochschulen zusammen. „Wir wollen das wissenschaftlich begleiten lassen“, erklärt Hener. Masterarbeiten und Dissertationen seien bereits vorbereitet. Und sie wollen einen Förderantrag an „Taten für morgen“, einen Bundesfonds für Nachhaltigkeit, stellen.


Privat haben sich die Pioniere vorgenommen, im nächsten Jahr weniger zu fliegen und mehr elektrisch zu fahren. „Wenn jeder ein bisschen macht, ist das schon viel“, sagt Lassonczyk. Auf dem Teich ziehen erste Regentropfen feine Kreise in die spiegelnde Oberfläche und kündigen das ersehnte Sommergewitter an. „Dass wir das nicht alles erreichen“, sagt Lassonczyk mit Blick auf ihr perfektes Postkarten-Dorf und lässt den Halbsatz eine kurze Weile schweben, bevor sie mit einem fröhlichen Lachen nachsetzt: „Wir sind Realisten.“


Wer über den aktuellen Stand des Projektes auf dem Laufenden bleiben oder sich bewerben will, kann sich im Internet informieren unter www.oekoseedorf.net

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