Erschienen in der Schwäbischen Zeitung, 8.3.2019, Seite 3
Telefonieren gegen die Angst
Ein Verein begleitet Menschen am Telefon nach Hause – und ruft im Notfall die Polizei
Von Sarah Schababerle
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Ravensburg - An einer Fußgängerampel bemerkt sie ihn zum ersten Mal. Es ist ein später Winterabend kurz vor Weihnachten und sie ist auf dem Weg nach Hause. Auf einem Christkindlesmarkt in München hatte sie mit Freunden Glühwein getrunken, anschließend ist sie mit der U-Bahn zur Haltestelle bei ihr um die Ecke gefahren. Beim Aussteigen aus der Bahn macht ihr ein Mann die Tür auf und lässt ihr anschließend den Vortritt. Nun steht er hinter an der Ampel, während sie warten, dass das grüne Männchen aufleuchtet.
Sie nimmt ihn nur im Augenwinkel war. Er ist ihr so nah, dass er sie fast berühren muss. „Mir kam das komisch vor, weil er so dicht bei mir stand“, erzählt die Frau, die lieber anonym bleiben möchte, später. Aus der ersten Irritation wird bald Unwohlsein, als der Mann ihr weiter folgt. Mit dem Blick auf ihr Handy bleibt sie deshalb stehen, um ihn vorbeizulassen. „Er hat sich immer wieder nach mir umgedreht“, sagt die 33-Jährige. „Ich bin kein Angsthase, aber das war schon seltsam. Ich war ganz allein.“
Es sind Situationen wie diese, vor denen sich viele Menschen fürchten. Auch Claudia Mayer kennt das beklemmende Gefühl, das sie vor allem dann beschleicht, wenn sie im Dunkeln zu Fuß oder allein in Bus oder Bahn unterwegs ist. Die 39-jährige Kulturpädagogin mit den kinnlangen, dunkelblonden Haaren strahlt Ruhe und Selbstsicherheit aus, als sie mit aufrechter Körperhaltung, einen bunten Schal locker um den Hals geschwungen, in dem Markdorfer Café sitzt. Sie wirkt so gar nicht wie jemand der Angst haben müsste. Doch Mayer widerspricht: „Ich glaube, das ist ein Thema für viele Frauen.“
Mayer versucht deshalb, solche Situationen von vornherein zu vermeiden, nimmt Umwege in Kauf. Doch was tun, wenn sich der Weg nun mal nicht anders legen lässt? Wenn man durch die Passage mit der defekten Straßenbeleuchtung gehen muss, um zu eigenen Haustür zu kommen? „Ich scanne dann immer die ganze Umgebung. Ich schaue, hinter welchem Gebüsch ein Versteck sein könnte“, beschreibt Mayer. Der Puls gehe schneller, sie könne ihn dann oft spüren oder sogar hören. Überhaupt wirke jedes Geräusch plötzlich um ein Vielfaches verstärkt.
Eine Möglichkeit, die Angst nicht zu groß werden zu lassen, ist der Anruf bei der Nummer 030 120 74128 – dem Heimwegtelefon. Hinter der Berliner Nummer, die von überall aus Deutschland zum Festnetztarif erreichbar ist, verbirgt sich ein Verein, der Menschen mehr Sicherheit geben will. Rund 40 ehrenamtliche Helfer aus ganz Deutschland betreuen die Hotline, die an sieben Tagen pro Woche abends und nachts erreichbar ist.
Conny Vogt ist eine von denen, die ans Telefon gehen, wenn jemand die Nummer wählt. Wenn die 52-Jährige Dialekt spricht, so ist er am Telefon nicht zu erkennen. Ihre klare Stimme hat etwas unaufgeregt Mütterliches. „Zunächst werden Name, Standort und Zielort abgefragt“, erklärt sie den Ablauf. „Dann klären wir in der Regel datenschutzrechtliche Dinge.“ Dazu gehöre beispielsweise, dass die Telefonnummer des Anrufers gegebenenfalls an die Polizei weitergeleitet werden darf. Anschließend werde ein Thema vereinbart, über das sich Anrufer und Telefonist unterhalten, bis die Person an ihrem Ziel ankomme. „Manchmal ergibt sich einfach etwas durch die Frage, wo kommst du denn her“, erzählt Vogt. Die Nachtdienste macht sie wie fast alle Helfer neben ihrem normalen Beruf. Seit Oktober hat sie außerdem den Vorsitz des Vereins übernommen.
Vogt: „Mehr als 99 Prozent kommen gut zu Hause an“
„Wir arbeiten eher gegen das Gefühl der Angst und Ohnmacht, als gegen eine reale Bedrohung“, erklärt Vogt den Nutzen des Heimwegtelefons. Zwischen 100 und 200 Anrufe bearbeiten die Helfer pro Woche – im Winter mehr als im Sommer. „Mehr als 99 Prozent der Fälle kommen gut zu Hause an.“ Viele Menschen erzielten den gleichen Effekt, indem sie bei Freunden oder Verwandten anriefen. Doch das sei um zwei oder drei Uhr nachts manchmal schwierig. „Wenn ich das Handy am Ohr habe, habe ich das Gefühl, ich bin nicht allein“, sagt Claudia Mayer. Sie ist bisher immer gut zu Hause angekommen.
Bei der Hotline, deren Infrastruktur vom Internettelefonie-Anbieter Sipgate kostenlos zur Verfügung gestellt wird, dürfe jeder anrufen, betont die Vorsitzende des Vereins, Männer wie Frauen, jung oder alt. Dabei sei es auch egal, ob sie sich auf dem Weg zur Arbeit, auf der Hunderunde oder auf einem Spaziergang befänden. Lediglich Unter-16-Jährige brauchen aus rechtlichen Gründen eine Einverständniserklärung der Eltern. Vogt rät deshalb, eine solche vorsorglich abzufotografieren, um sie im Falle eines Falles per Kurznachricht an die Telefonisten schicken zu können.
Für Peter Köstlinger ist Telefonieren eine sinnvolle Maßnahme, um erst gar nicht für potenzielle Täter interessant zu werden. Der Kriminalhauptkommissar aus Friedrichshafen hält das Heimwegtelefon, anders als kommerzielle Angebote und Apps, für eine „tolle Idee“. „Wenn ich Unterstützung am Telefon bekomme, bringt mich das in eine ganz andere Körperhaltung“, erklärt der 1,90-Meter-Hühne. Einem potenziellen Täter könne allein das signalisieren, dass er sich das falsche Opfer ausgesucht habe. Auch die Tatsache, dass jemand am anderen Ende der Leitung mithöre, schrecke viele Täter ab, sagt der 58-Jährige. Er warnt jedoch davor ein Telefonat nur zu simulieren: „Da kriege ich die Krise“, sagt er. „Erstens zeigst du dem Täter dein 800 Euro-Handy und zweitens dauert es im Notfall viel zu lange, dann wirklich jemanden anzurufen.“
Und solche Notfälle gibt es: exhibitionistische Handlungen, sexuelle Nötigung, Raubüberfälle, Vergewaltigungen. Auch beim Heimwegtelefon gab es schon Anrufe, in denen eine muntere Plauderei nicht half, wie Vogt erzählt. Einmal habe eine Frau angerufen, die zunächst verfolgt und während des Anrufs angegriffen worden sei. „Sollte sich jemand wirklich verfolgt fühlen, haben wir die Möglichkeit, die Person umzuleiten, zum Beispiel zu einer Bank, an der es immer eine Videoüberwachung gibt“, erklärt Vogt, wie die Helfer im Ernstfall reagieren. Auch eine belebtere Straße oder eine Polizeistation, die die Telefonisten per Online-Karte mit der Position des Anrufers abgleichen, können Anlaufstellen sein, um aus einer bedrohlichen Situation zu entkommen. „Wir haben Name, Telefonnummer und den letzten Standort. Sollte etwas passieren, rufen wir in der Leitstelle an und die schickt dann die Polizei vorbei.“ Dafür hätten die Helfer immer ein zweites Telefon. Im Fall des Überfalls auf die Frau habe die Polizei einen Mann festnehmen und damit Schlimmeres verhindern können.
Die Angst, dass so etwas passiert, betrifft nach Vogts Erfahrung vor allem Frauen. Sie sind es, die hauptsächlich beim Heimwegtelefon anrufen. Doch hin und wieder verirre sich auch mal ein Mann in die Leitung, sagt die Vereinsvorsitzende, vor allem dann, wenn er unter einer Phobie leide. Sie habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass Männer häufiger aus Langeweile zum Telefon griffen. „Ja, auch Flirtversuche sind dabei“, erzählt sie schmunzelnd. „Dafür sind wir eigentlich nicht da. Aber das merken wir relativ schnell.“ Auch Fake-Anrufe gibt es. Unter anderem deshalb nehmen die Helfer das Telefon nur ab, wenn die Nummer des Anrufers angezeigt wird. „Es macht etwas mit einem, wenn jemand anruft und schreit: ,Hilfe, ich werde vergewaltigt.´“ Die Telefonisten bekämen in solchen Fällen wie auch nach tatsächlichen Notfällen sofort psychologische Hilfe.
Die Münchnerin, die auf dem Heimweg von der U-Bahn ihren persönlichen Alptraum erlebt, nutzt damals einen Moment aus, als ihr Verfolger nicht nach ihr schaut und wechselt kurzentschlossen die Straßenseite. Das Herz schlägt ihr bis zum Halt, als sie sich tief zwischen zwei parkenden Autos duckt. Sie ruft eine Freundin an. Flüstert. „Ich wollte zumindest jemandem sagen, wo ich bin, falls etwas passiert.“ Von ihrem Versteck aus beobachtet sie, wie der Mann umdreht und den Weg bis zur U-Bahn zurückläuft. Sie ist sich sicher, er sucht nach ihr. Erst als sie ihn nicht mehr sehen kann, rennt sie nach Hause. Die U-Bahnhaltestelle meidet sie seither. Um nicht mehr an der Stelle vorbeigehen zu müssen, steigt sie an einer ganz anderen Haltstelle aus, läuft große Umwege oder nimmt ein Taxi.
Das Heimwegtelefon ist unter der Nummer 030 120 74128 immer sonntags bis donnerstags zwischen 20 und 24 Uhr sowie freitags und samstags von 22 bis 4 Uhr erreichbar.