"Dann zeichne ich ihnen im Video eine Pizza"

Sebastian unterrichtet an der Inge-Aicher-Scholl-Realschule in Pfuhl Mathematik und setzt dabei auf digitale Medien. Sarah Schababerle hat mit ihm darüber gesprochen, wie digitaler Unterricht funktionieren kann.

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Herr Schmidt, was ist Flipped Classroom?

Wenn man es in der Engführung sieht, dann heißt es erstmal, dass das Klassenzimmer oder die Unterrichtsstunde umgedreht wird. Das heißt, das, was ein Schüler inhaltlich normalerweise im Unterricht beigebracht bekommt, bekommt er vorab in einem Video zur Vorbereitung auf. Und das, was er normalerweise daheim als Hausaufgabe zu machen hätte, findet dann im Unterricht statt.


Haben Sie dafür ein Beispiel?

Wenn ich den Schülern beibringen möchte, wie man zum Beispiel Brüche addiert, dann zeichne ich ihnen im Video eine Pizza. Ich zeige den Schülern grafisch, was ein Viertel Pizza und was ein Achtel Pizza ist und sie sollen sich bis zur nächsten Stunde überlegen, wie man das zusammenfassen könnte. Im Unterricht machen die Schüler dann ihre Vorschläge. Da werden vielleicht falsche Sachen dabei sein. Manch ein Schüler könnte aber schon darauf kommen, dass ein Viertel nichts anderes ist als zwei Achtel und ein Achtel und zwei Achtel sich leicht zusammenfassen lassen. Daraus erarbeiten wir uns dann die Regel. Anstatt das ganze dann ins Heft abzuschreiben, eine Phase, die im Unterricht nicht wertvoll ist, geht man direkt in die Übungsphase. Als nachfolgende Hausaufgabe gibt es ein Erklärvideo von mir, in dem das Ganze noch einmal in schöner Form dargestellt ist und woraus der Schüler seinen Hefteintrag kreiert.


Wie kamen Sie auf das Konzept?

Wenn ein Schüler etwas selbständig macht, verspricht das einen höheren Lernerfolg. Problem ist nur, dass dieser Lernerfolg nicht immer nachhaltig ist. Und wenn man im Team zusammenarbeitet, hat es oft nur einer kapiert, aber die anderen nicht. Ich habe im Unterricht Stunden, Wochen und Monate damit verbracht, eine Thematik immer wieder neu aufzurollen, weil einzelne Schüler sie nicht verstanden haben. Da kam mir die Idee eines Erklärvideos vor dem Hintergrund: „Wenn du das noch nicht verstanden hast, dann bereite dich auf die nächste Stunde mit diesem Video vor, damit du den Status quo deiner Mitschüler erreichst.“ Die Schüler sind so darauf angesprungen, dass ich mir überlegt habe, wie ich das sinnvoll in meinem Unterricht einsetzen kann.


Was ändert sich dadurch für die Schüler und auch für Sie?

Beim Lehrer-Schüler-Gespräch oder beim Frontalunterricht wird alles vom Lehrer angeleitet, das heißt, wenn der Lehrer nicht da ist, kann auch kein Lernen stattfinden. Das darf nicht sein. Irgendwann nach der zehnten Klasse gehen die Schüler von der Schule und es ist kein Lehrer mehr da. Lernen muss also losgelöst sein von der zentralen Rolle des Lehrers.


Machen Sie sich damit nicht selbst überflüssig?

Das stimmt nicht, denn die Fünft- bis Neuntklässler müssen motiviert werden, gepusht werden, gecoacht werden, wie Lernen funktioniert. Dafür bin ich extrem wichtig. Aber ich bin nicht dafür verantwortlich, dass ein Schüler den Stoff eingetrichtert bekommt. Der Schüler muss selbst mit seinem Material umgehen lernen. Das geht nur, wenn ich die Verantwortung an die Schüler weitergebe und ich mich im Hintergrund bewegen kann.

 

Gibt es denn dann bei Ihnen überhaupt noch Mathemuffel?

Ja, natürlich. Es gibt die Komplettverweigerer, es gibt diejenigen, die nach wie vor Angst haben. Der Clou daran ist, dass in jeder Stunde 60 bis 70 Prozent der Schüler einfach schon mal arbeiten und ich mich nur noch um die Muffel kümmern muss oder um diejenigen, die unterfordert sind.


Warum gibt es dennoch Kritik an Flipped Classroom?

Es gibt zwei Welten, die Theorie und die Praxis des Lernens, mit ganz unterschiedlichen Facetten. In der Theorie gehen wir von einem Schüler aus, der gerne in die Schule geht, der gut lernt und der einen Intellekt besitzt. Wir müssen nur die beste Methode finden, um den Schüler zu motivieren. Am besten wäre eine Schule, in der jeder Schüler selbst bestimmt, wann er was lernt. Aber auf der anderen Seite haben wir den Lehrplan. Und wir haben Schüler, die in den Unterricht kommen und von vornherein sagen, nein, heute nicht. Dem entsprechend ist es für uns Lehrer immer sehr schwierig Unterricht zu kreieren. Wir müssen uns einerseits ein Stück weit anbiedern, damit der Schüler einen Sinn hinter seinem Lernen findet. Gleichzeitig müssen wir Theorien berücksichtigen, damit das nachhaltige Lernen gefördert wird. Meiner Meinung nach wird es immer schwieriger, die Lerntheorie mit dem erfolgreichen Lernen der heutige Schüler im bestehenden Schulsystem zusammen zu bringen. Deshalb suche ich ein Mittelmaß. 


Und das ist falsch?

Ich gebe dem Schüler das Erklärvideo, weil er es gewohnt ist, von seiner nachmittäglichen Routine mit Videos zu lernen und nehme dafür in Kauf, dass das lerntheoretisch nicht toll ist. Eigentlich wäre es besser, der Schüler bräuchte kein Video, sondern käme selbst auf die Lösungsansätze. Andererseits versuche ich, die Lernvideos – weil ich um ihre Fehler weiß – als nachgelagerte Elemente zu verwenden, um die Schüler möglichst selbstentdeckend im Unterricht lernen zu lassen. Dem entsprechend kann man mich von beiden Seiten kritisieren. Das ist ein Drahtseilakt. 


Konnten Sie schon andere Lehrer für Ihre Methode begeistern?

Darum geht es letztlich gar nicht. Meine Idee ist, dass Flipped Classroom so etwas wie eine Brückentechnologie darstellt zur digitalen Lehre und zu mehr Schüleraktivität. Aber: Wenn ein Lehrer schon ständig in Projekten und mit schülerzentrierten Methoden arbeitet und damit relativ weit kommt, dann brauche ich ihn nicht überzeugen. Eine eierlegende Wollmilchsau in der Bildung gibt es einfach nicht. Wenn man keinen Sinn dahinter sieht und nur zwanghaft Flipped Classroom macht, kann man damit auch schlechten Unterricht machen. Es ist wie mit jeder Idee im Bildungswesen: Wenn dahinter ein pädagogischer Wert steckt, dann kann man mit vielen Methoden zum Ziel kommen.


Inzwischen haben Sie Ihr Projekt für beendet erklärt. Ist jetzt Schluss mit Flipped Classroom?

Nein, das heißt, ich habe fünf Jahre herum probiert und für mich jetzt einen Punkt gefunden, an dem ich glaube zu wissen, wie man Erklärvideos sinnvoll einsetzen kann und wie sie einen Wert für den Unterricht haben. Das Ganze hat keinen Projektcharakter mehr, weil ich glaube, dass das jetzt ein Selbstläufer ist. Ich setze das Konzept in drei Klassen parallel ein, letztes Jahr waren es vier Klassen. Irgendwann darf man das auch als gängige Praxis einstufen.


Wird Flipped Classroom einmal den klassischen Unterricht komplett ersetzen?

Eigentlich ist Flipped Classroom klassischer Unterricht. Man ändert ja nichts an den Inhalten, man ändert nur die Reihenfolge. Traditioneller Unterricht im Sinne von ausschließlichem Frontalunterricht sollte allerdings schon längst durch schülerzentriertes Arbeiten abgelöst worden sein, auch wenn das in der Praxis das noch nicht überall stattgefunden hat. Aber ich glaube, dass es auch andere Methoden und Konzepte als Flipped Classroom gibt, die das können. Man kann auch mal ein Thema, für das man brennt, frontal vermitteln, wenn danach die Schüler wieder eigenständig arbeiten. Die gesunde Mischung macht es aus.


Das heißt Unterricht muss sich für neue Konzepte öffnen?

Ja, wir wollen, dass sich die Schüler im 21. Jahrhundert zurechtfinden und auf die Zukunft vorbereitet werden. Dass sie digital kommunizieren können, dass sie Richtig und Falsch im Internet unterscheiden können. Diese Dinge können erst kommen, wenn Digitales im Unterricht eine Rolle spielt. Ich kann mich im Unterricht nicht hinstellen und analog erklären, was Fake News sind, wenn ich nicht einmal auf Facebook bin. Das ist eine Spirale der digitalen Bildung: Wir brauchen kompetente Lehrer, um kompetente Schüler zu bekommen. 


Muss es dafür eine Altersgrenze geben?

Das kann ich nicht beantworten. In der fünften Klasse ist es schon ziemlich anstrengend, den Unterricht mit digitalen Elementen zu gestalten, weil die technische Basis fehlt. Andererseits ist es sinnvoll, um medienpädagogisch wirken zu können. Wenn ich einen Achtklässler versuche, davon zu überzeugen, nicht so viel zu daddeln, und er macht das schon vier Stunden am Tag, dann habe ich nicht viel Einfluss. Wenn ich aber schon vorher mit den Schülern ins Gespräch kommen kann, wenn sie mir zuhören, weil sie noch nicht in der Pubertät sind, dann fällt es vielleicht leichter, sie ins Boot zu holen und das zu einem gemeinsamen medienpädagogischen Ansatz zu bringen. Gewisse Elemente kann man bestimmt in der ersten Klasse verwenden, aber wenn das bedeutet, Erstklässler bekommen ein Smartphone und haben freien Zugang zum Internet, dann halte ich das für sehr gefährlich.


Aber setzt das Kinder, Eltern, aber auch Ihre Kollegen nicht ein stückweit unter Zugzwang? Manche Experten halten Medienkonsum über das Grundschulalter hinaus für sehr gefährlich.

Es ist immer die Frage, brauchen wir das überhaupt. Ich glaube, dass der Großteil meiner Kollegen hervorragenden Unterricht macht und nie etwas Digitales einsetzt. Ich sage, das ist genau der richtige Unterricht. Lernen funktioniert analog am besten. Auf der anderen Seite gibt es keine völlig analoge Lebenswirklichkeit mehr, das heißt, wir sind in fast allen Bereichen des Lebens digital durchdrungen. In der Schule bereiten wir die Menschen auf die Welt mit Digitalisierung vor. Dem entsprechend muss in ihr beides eine Rolle spielen. Einerseits nutze ich Digitalisierung im Unterricht, um die Schüler adäquat auf die Lebenswirklichkeit vorzubereiten. Andererseits lasse ich sie auch weg, wenn ich merke, dass das Lernen im analogen Bereich deutlich geschickter ist.


Hat Flipped Classroom Ihr Selbstverständnis als Lehrer verändert?

Ja. Ich muss dazusagen, aus Effizienzgründen war ich vorher zu häufig in der frontalen Ausrichtung. Durch die Öffnung meines Unterrichts wurde mir bewusst, wie abhängig die Schüler von meinem Ja und meinem Nein waren. Viele Schüler haben Fragen gestellt, obwohl sie sie mit ein bisschen Nachdenken hätten selber beantworten können. Da ich keine 20 Fragen auf einmal beantworten konnte, musste ich mir selber helfen, indem ich die Verantwortung immer weiter abgab und mich selber aus der zentralen Rolle herausnahm. Ich musste abwägen, wo ich helfen muss, weil ein Schüler sonst an seiner Aufgabe verzweifelt, und wo es ausreicht, ein Coaching zu geben, damit er sich selbst helfen kann. Die Änderung für mich ist, dass ich versuche im Hintergrund zu bleiben. Da habe ich sehr viel dazugelernt.


Wo sehen Sie die größten Chancen von Flipped Classroom?

Angefangen hat alles mit einem Video. Aber je länger ich das mache, umso weniger wichtig ist das Video, sondern eher der Schüler in seiner Selbständigkeit. Dafür ist das Video der Türöffner. Flipped Classroom ist für viele Kollegen eine Möglichkeit, ihre Lehre zu professionalisieren und einen Sinn hinter dem schülerzentrierten Arbeiten zu finden.


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